Liebe Leser/innen!

Unsere heutige 60ies Geschichte ist ein kleiner Auschnitt aus dem Buch «Wir lagen vor Madagaskar» von Klaus A. Amann, erschienen bei der Bibliothek der Provinz (https://www.bibliothekderprovinz.at/buch/7239/ ). Viel Spaß beim Lesen.

Die zweite Geräuschkulisse unseres Bubenzimmers wurde ebenfalls zu einer Pestbeule der 60-er Jahre. Die armen Schweine, die Montags im Dunkel der Nacht angekarrt wurden und tags darauf als saftige Schnitzel mariniert oder fasernackt im Schaufenster lagen, wurden nach der wundersamen Transformation die sie im Schlachtraum erleiden mussten, immer mehr zum Statussymbol für die aufstrebenden Wirtschaften der Sieger und Verlierer. Viel Fleisch, viel Ehr. In diesen Jahren waren wir ein Acht-Personen-Haushalt mit hungrigen, heranwachsenden Jugendlichen und manchmal drei bis vier Erwachsenen am Tisch. Damals war Fleisch noch etwas Besonderes und dem Sonntag vorbehalten. Bei uns war der kulinarische Höhepunkt der Woche das Huhn, nach den Strapazen des Badens, des Anziehens der kratzigen oder stärrigen Wäsche, des Kirchgangs in die kalte Kirche am Tage des Herrn. Der Tag des Huhns: ein einziges Huhn lag auf dem Opfertisch, nachdem sich in der Messe Jesus für uns verwandelt hatte und geopfert wurde. Wir verstanden weder die lateinischen Litaneien, die wir seit dem sechsten Lebensjahr auswendig herunterratschten, schnell genug um die Messe voranzutreiben, aber nicht zu schnell, um nicht vom ewig grantigen Pfarrer gerüffelt zu werden, noch die mysteriösen Seelen, die unter ein Dach eingehen sollten, oder das Nehmet und esset alle davon, das der Pfarrer immer alleine trank. Später erfuhren wir erstaunt, dass dies der Lieblingssatz unseres türkischen Nachbarkinds und Spielgefährten war, der eine Zeit lang aus Neugierde in die Messe mitkam: Für ihn klang es wie Mehmet und Esen, der Name seines Vaters und der seiner Schwester.

von Klaus A. Amann.

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